Zu meinem bei Amazon KDP veröffentlichten Buch „Klosterkind: Meine Mutter brachte mich ins Waisenhaus“

Warum ich in den Fünfzigerjahren im St. Josefsheim in Birkenwerder – einem katholischen Kinderheim – abgegeben wurde

Wenn ich mir heute den Buchmarkt oder auch das TV-Programm anschaue, stoße ich recht häufig auf die Fünfzigerjahre. Nicht wenige Filme und noch mehr Romane lassen den Eindruck entstehen, dass es bunte, spannende, wunderschöne Jahre gewesen sein müssen, diese wilden Fünfziger, damals, so kurz nach dem Krieg.

Es gab den verrückten Rock ’n‘ Roll im weit schwingenden Tellerrock, und in den Wohnzimmern standen Nierentische und Stehlampen mit Schirmen, die wie Tüten aussahen und deshalb auch so bezeichnet wurden. Junge Mädchen hießen nicht mehr Backfische, sondern von nun an Teenager. Der Pferdeschwanz war eine hochmoderne Frisur. Und Jeans bezeichnete man ausdrücklich als Bluejeans, denn es gab sie tatsächlich nur in der Farbe Blau.

Cornelia Froboess war noch „Die kleine Cornelia“ und sang „Pack die Badehose ein!“, bevor sie später „Conny“ wurde.

Es gab Westberlin und Ostberlin sowie „die Zone“, womit die im Oktober 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik, die DDR, gemeint war.

Meine Eltern und ich lebten in der „Zone“, der sowjetischen Besatzungszone (SBZ).

Wir bewohnten ein kleines Haus, das in einem großen Garten stand, nicht allzu weit entfernt von Berlin, mit der S-Bahn war man in ungefähr zwei Stunden dort.

Ich habe die Fünfzigerjahre ganz bewusst erlebt, und tatsächlich waren sie auch für mich meist bunt und aufregend, aber sind das Kinderjahre – auch schlimme – eigentlich nicht immer?

Mein Vater wollte sich Mitte der Fünfzigerjahre selbstständig machen, dazu wurde Geld benötigt. Meine Eltern hatten zeit ihres Lebens eine große Abneigung gegen Bankkredite, also bewarb sich meine Mutter bei der Deutschen Reichbahn in Ost-Berlin als Stenotypistin. Denn in Berlin wurden zum Teil erheblich höhere Löhne und Gehälter gezahlt als in der DDR. Auch mein Vater nahm eine Arbeit in Ostberlin auf. Das bedeutete, dass beide sehr früh das Haus verlassen mussten, um pünktlich am Arbeitsort zu sein. Und nun wusste man offenbar nicht, wohin mit mir. In der Umgebung gab es keine Einrichtungen mit freien Plätzen, wo man mich morgens abgeben und abends hätte abholen können. Die einzige Möglichkeit meiner „Aufbewahrung“war angeblich das St. Josefsheim in Birkenwerder bei Berlin – ein katholisches Kinderheim und Waisenhaus.

Tatsächlich fuhr meine Mutter eines Tages mit mir in dieses Nonnenkloster und lieferte mich – die Vierjährige – dort ab, mich, einen kleinen Koffer mit Kleidung und meine Puppe. Dieses für mich so einschneidende Erlebnis beschreibe ich ausführlich in meinem Buch „Klosterkind: Meine Mutter brachte mich ins Waisenhaus“.

Ich fühlte mich, als wenn man mich auf einer einsamen Insel ausgesetzt hätte.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich von meinen Eltern getrennt war und den Grund dafür nicht kannte. Bisher hatte man mich stets nur bei Verwandten oder Nachbarn abgegeben, wenn meine Mutter zum Beispiel krank war. Oder wenn ich die Verwandten für eine Weile einfach nur besuchen sollte. Solche Besuche hatten mir eigentlich immer gefallen, am liebsten war ich beim Großvater oder bei der Urgroßmutter, die beide in Westberlin wohnten. Meist blieb ich eine Woche dort, selten länger, es sei denn, ich wurde dort krank, was schon mal vorkommen konnte. Ich habe einige der bekannten Kinderkrankheiten in Westberlin bekommen und dort auskuriert.

Doch in diesem St. Josefsheim schien ich festzusitzen, ein Ende meines „Besuches“ war offenbar nicht in Sicht. Ich hatte keine Ahnung, wann man mich aus diesem düsteren Haus wieder rausholen würde. Manchmal dachte ich sogar, dass dies womöglich niemals der Fall sein könnte. Worin mich andere Kinder, die schon länger in diesem Waisenheim lebten, noch bestärkten.

Ich erinnere mich noch heute genau, dass ich mich in diesem Nonnenkloster unendlich einsam und unglücklich fühlte. Und dass ich oft darüber nachdachte, ob mich meine Eltern vielleicht gar nicht mehr wollten, weil ich sie verärgert hatte. Denn ich war ein Suppenkaspar, ein schlechter Esser, eine Mäkelsuse. Und mir war klar, dass meine Eltern sich dadurch genervt fühlten.

Die Nonnen praktizierten die sogenannte „schwarze Pädagogik“.

Als wenn Heimweh, Einsamkeit und all die Unklarheiten nicht bereits genügt hätten, meinen Aufenthalt im Waisenhaus zu einem Martyrium werden zu lassen. Aber es kam noch die grausame „Erziehungsarbeit“ der Nonnen hinzu, welche von diesen Frauen offenbar als „pädagogisch wertvoll“ angesehen wurde, denn warum sonst haben sie ihre Bestrafungen genau so und nicht anders ausgeführt?

Es gab Prügel, man wurde eingesperrt, man musste Ewigkeiten auf den Knien ausharren, stundenlang laut oder auch schweigend beten, es gab Essensentzug als Strafe, aber es konnte einem die Nahrung auch gewaltsam eingetrichtert werden, wenn man das Essen verweigerte. Kleinere Strafen waren Ohrfeigen und sogenannte Katzenköpfe. Ein lustiges Wort, aber was ist das? Man ballt die Hand zur Faust, und dann schlägt man mit den Fingerknöcheln einem Kind hart auf den Kopf.

Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen, das versuchte, so einem Faustschlag auszuweichen. Sie stolperte und fiel so unglücklich aufs Gesicht, dass ein halber Schneidezahn abgeschlagen wurde. Für uns Kinder war das eine Sensation. Dass einem die Milchzähne ausfielen, das kannten wir ja alle zur Genüge, aber ein Mädchen mit einem halben Zahn vorn, das war neu und besonders. Ich weiß nicht, was die „barmherzigen Schwestern“ zu diesem Unfall meinten, ich weiß aber noch, dass dieses Mädchen viele Monate später, als ich endlich das Waisenhaus verlassen durfte, noch immer mit seinem halben Zahn herumlief.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, über all die Strafen und Quälereien der Nonnen im Detail zu berichten. Das Buch „Klosterkind: Meine Mutter brachte mich ins Waisenhaus“ widmet allein diesem Thema mehrere Kapitel.

Kinder störten die Erwachsenen damals beim Wiederaufbau des Landes. Alle Kinder?

Heute denke ich übrigens, dass die Fünfzigerjahre wirklich eine gute Zeit waren. Der Krieg war vorbei, die Menschen waren voller Hoffnung. Neues entstand aus Ruinen, man wurde wieder satt, man kaufte hübsche Kleider und ging zur Dauerwelle.

Elke Heidenreich, von mir sehr geschätzte Bestsellerautorin und Literaturkritikerin, hat mal gesagt, dass in den Fünfzigerjahren die Kinder meist nur im Weg waren. Sie waren lästig, denn der Aufbau, dieses „Wir sind wieder wer!“ und „Wir wollen uns wieder was schaffen!“ kostete die Erwachsenen viel Zeit und Kraft und Geld und Nerven. Kinder störten da nur. Elke Heidenreich hat dies als Kind am eigenen Leib erfahren müssen. Ich auch. Und viele andere Kinder. Aber eben nicht alle. Schließlich wurde nicht der gesamte Nachwuchs in Heimen abgeliefert. Umso bitterer war es für die, die dort landeten.

Und so wurde ich kurz nach meinem 4. Geburtstag im Waisenhaus abgeliefert.

Ich störte offenbar. Und genau das habe ich auch gespürt. Und genau deswegen musste ich ins Heim. Ich, das einzige Kind einer ganz normalen Familie, ohne Not, ohne Krankheiten, eine durchschnittliche Familie ohne irgendwelche erwähnenswerten Besonderheiten. Ich musste also weg, damit man etwas schaffen, etwas anschaffen konnte. Zum Wohle der Familie und damit ja letztendlich auch zum Wohle des Kindes. So dachte man damals, und so geschah es.

Auf die Frage „Geld oder Liebe?“ entschieden sich meine Eltern somit für das Geld.

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