Was ist überhaupt ein Tabuthema? Im Internet dazu gefunden: „Ein Tabuthema ist ein Thema, über das nicht gesprochen wird bzw. nicht gesprochen werden darf.“
Ist sexuelle Gewalt an Kindern bzw. sexueller Missbrauch von Kindern hier und heute wirklich noch ein Tabuthema?
Der Versuch einer Annäherung …
Zu Beginn der Neunzigerjahre wurde in den Medien viel über den Fall Woody Allan debattiert. Der amerikanische Regisseur, Autor und Schauspieler wurde beschuldigt, eine seiner Adoptivtöchter (Dylan, damals sieben Jahre alt) sexuell missbraucht zu haben. Dylan äußerte sich später als junge Frau dazu mehrfach in der Öffentlichkeit, Woody Allen bestreitet das Ganze bis heute.
Mit einer anderen Pflegetochter, einer Adoptivtochter seiner Ehefrau Mia Farrow, der damals 20jährigen Soon-Yi, begann er eine heimliche Liebesbeziehung. Mia Farrow entdeckte Aktfotos von Soon-Yi, die Allen aufgenommen hatte. Er gab daraufhin das Verhältnis zu. Die 35 Jahre jüngere Soon-Yi und Allen heirateten nach Allens Scheidung von Mia Farrow.
In den Jahren 2009 und 2010 schlug ein weiterer Fall hohe Wellen. Es hieß, der bekannte Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Roman Polanski habe eine Dreizehnjährige missbraucht. 2017 meldeten sich zwei weitere Opfer im Alter von 16 beziehungsweise 10 Jahren, die angaben, von Polanski sexuell missbraucht worden zu sein. Polanski lebt seit der ersten Anschuldigung nicht mehr in den USA, Amerikas Ausweisungsanträge an die Schweiz bzw. später an Polen scheiterten.
Zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen
Ebenfalls 2010 wurden unzählige Missbrauchsfälle durch Priester in katholischen Jungenschulen bekannt. Kurz darauf machten ehemalige Schüler der renommierten Odenwaldschule darauf aufmerksam, dass sogar in einer solchen reformpädagogischen Vorzeigeeinrichtung sexueller Missbrauch systematisch und massenhaft von Erziehern praktiziert wurde.
In der Folgezeit meldeten sich zunehmend Erwachsene zu Wort, die als Kinder Opfer sexueller Gewalt in kirchlichen Kinderheimen geworden waren.
Ich wurde zwar nicht sexuell missbraucht, aber ich habe in den Fünfzigerjahren zwei Jahre in einem katholischen Waisenhaus leben müssen und weiß daher aus eigener Erfahrung, dass die Nonnen gegenüber den ihnen anvertrauten Zöglingen massive physische und emotionale Gewalt ausübten. Unter dem Deckmantel christlicher Nächstenliebe und Fürsorge hatten die barmherzigen Schwestern und die Priester freie Hand gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern. Und es gibt noch heute nicht wenige Vorfälle dieser Art.
Immer mehr Missbrauchsfälle geraten an die Öffentlichkeit
Auch zahlreiche Missbrauchsfälle, die in Deutschland und in anderen Ländern seit der Jahrtausendwende aufgedeckt wurden (und immer noch werden), hat man in den vergangenen Jahren öffentlich diskutiert. Da war der Missbrauch auf dem Campingplatz in Lüdge, es gab den Fall Josef Fritzl oder auch die Missbrauchsdiskussion um Michael Jackson, um hier nur einige wenige zu nennen.
Eine kleine Chronik dieser Verbrechen wird so nach und nach auf diesem Blog entstehen.
Man kann also durchaus sagen, dass das Thema Missbrauch in jüngerer Vergangenheit massiv durch die Medien ging und eine gesellschaftliche Debatte auslöste.
Kindesmissbrauch als Thema in den Medien
Im Grunde könnte man fast von einer Medienflut in Sachen Missbrauch sprechen. Dabei werden die Macher nicht nur der Informationsseite des Ganzen in Form von Nachrichten, Dokumentationen oder Talkrunden gerecht, auch die Unterhaltungsbranche würdigt die Aktualität des Gegenstandes in beachtlichem Umfang und hat darüber hinaus natürlich auch das Spannungspotenzial des Themas entdeckt. Es gibt mittlerweile zahlreiche gute und weniger gute Fernsehfilme insbesondere aus dem Krimi-Genre, die Kindesmissbrauch, Menschenhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie zum Inhalt haben.
Natürlich trägt auch und sicher vorrangig das Internet dazu bei, dass das Thema sexueller Missbrauch verstärkt Beachtung findet.
Gibt man bei Google „Sexueller Missbrauch“ ein, so erhält man rd. 3.660.000 Ergebnisse. Darunter befinden sich auch zahlreiche Hilfeseiten für Opfer und für Angehörige von Opfern. Hier erhält man auch Informationen, wenn man der Auffassung ist, im persönlichen Umfeld einen Fall von Kindesmissbrauch bemerkt zu haben.
Sexuelle Gewalt als Thema auf dem deutschen Buchmarkt
Und nicht zuletzt ist das Thema sexuelle Gewalt an Kindern natürlich auch auf dem Buchmarkt angekommen. Ob als Sachbuch oder Fachbuch, ob als Roman oder Kurzgeschichte, die Vielzahl der Veröffentlichungen erweckt durchaus den Eindruck, dass sexuelle Gewalt an Kindern kein Nischenthema mehr zu sein scheint.
Auffallend ist, dass zahlreiche Bücher über Kindesmissbrauch von Selfpublishern verfasst und herausgegeben wurden. Es handelt sich hier überwiegend um Erfahrungsberichte mit dem Ziel, die Ungeheuerlichkeiten des Missbrauchs in der eigenen Kindheit zu dokumentieren und darüber hinaus aufzuzeigen, wie schwierig sich das Leben eines ehemaligen Missbrauchsopfers als Erwachsener gestalten kann. Solche Bücher möchten sicher nicht nur informieren, sondern auch Mut machen. Und sie haben darüber hinaus nicht selten den Effekt, dass das Aufschreiben der eigenen Erlebnisse oder das Aufschreibenlassen durch einen Ghostwriter für ein Missbrauchsopfer zumindest im Ansatz auch eine Therapiefunktion haben kann.
Weiterhin gibt es zunehmend selbstpublizierte Bücher zum Thema Missbrauch, die offenbar vordergründig abschreckende Wirkung beim Leser erzeugen möchten. Die Grausamkeiten des Kindesmissbrauchs werden zusätzlich durch düstere Örtlichkeiten, Ekelfaktoren, äußerlich abstoßend wirkende Täter, Foltermethoden u. Ä. verstärkt. Hier wird vor allem die Faszination des Abartigen bedient.
Ist sexueller Missbrauch noch immer ein Tabuthema?
Ist mit Blick auf all diese Faktoren das Thema sexueller Missbrauch bzw. sexuelle Gewalt an Kindern tatsächlich noch immer als Tabuthema anzusehen?
Ja und nein, ich denke, man muss dabei beide Seiten der Medaille betrachten.
Auf der einen Seite – in der Öffentlichkeit, in der Welt der Medien und des Buchmarktes – ist der sexuelle Kindesmissbrauch durchaus ein Thema, über das nicht mehr hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Seitens der Täter wird zwar viel verharmlost, heruntergespielt und geleugnet. Und es entsteht auch oftmals der Eindruck, dass die Justiz es Missbrauchsopfern schwer macht, zu ihrem Recht zu kommen. Verhör- und Befragungstaktiken, Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Verjährungsfristen und letztendlich das von den Opfern häufig als entschieden zu milde bezeichnete Strafmaß stehen immer wieder in der Kritik.
Von einem Tabuthema kann hier wirklich nicht die Rede sein.
Das Tabu aber besteht nach wie vor. Nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der Familie, im näheren Umfeld des Opfers, in der Schule, der Gemeinde, eben dort, wo das Opfer zum Opfer wird. Hier wird nach wie vor kaum über sexuelle Gewalt gesprochen. Solche Sachen passieren immer noch nicht hier und genau bei uns, sondern sie passieren immer nur den anderen, anderswo, weit weg am besten.
… Mein Mann macht das nicht, unser Opa würde so etwas nie tun, dieser Lehrer und jener Erzieher sind über so einen Verdacht natürlich erhaben. Der Onkel ist nicht pädophil, der ist nur ein bisschen anders, und eine Mutter macht so etwas schon gar nicht, eine Frau als Täterin ist ohnehin schlecht vorstellbar. Das Kind lügt, es hat eine blühende Fantasie, es weiß ja gar nicht, was es da redet …
Und es gibt noch eine weitere Tabu-Seite. Das Opfer selbst will sich nicht outen. Zwar gehen seit einiger Zeit nicht wenige Opfer mit ihren Missbrauchserlebnissen an die Öffentlichkeit, aber nicht alle machen auch sich selbst dabei öffentlich. Meist geschieht es unter einem Pseudonym. Oder die Texte, die Filmaufzeichnungen, die Interviews werden in anderer Form anonymisiert. Es gibt Opfer, die alles offenlegen, auch ihren Namen und den des Täters oder der Täter. Aber die Mehrzahl der Opfer verhält sich nicht so, und sie wird gute Gründe dafür haben.
Denn es ist noch immer so, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Gesellschaft Missbrauchsopfer in die Rolle des ewigen Opfers drängt. Einmal Opfer – immer Opfer. Damit erfolgt unweigerlich eine Festlegung auf die Rolle des Schwachen, des Leidenden, des endlos Traumatisierten, des lebenslang psychisch Kranken. Es ist nur zu verständlich, dass sich die Mehrheit der Opfer mit diesem Bild nicht identifizieren möchte. Und es ist nachvollziehbar, dass sich eine erwachsene Frau lieber hinter einem Pseudonym verbirgt, als sich in die Gefahr zu begeben, wegen Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit, die nicht in ihrer Verantwortung lagen, gegenwärtig und zukünftig stigmatisiert zu werden.
Mein Fazit: Öffentlich ist Kindesmissbrauch weitgehend kein Tabu mehr, aber im privaten Leben sieht man es nach wie vor zumindest als sehr heißes Eisen, das man mit bloßen Händen nicht anfassen kann. Also greift man es mit der Zange, um es anschließend am liebsten ganz schnell wieder fallen zu lassen. Und dann geht man unauffällig weiter, als wenn nichts geschehen wäre.
Du siehst dem Teufel gehorsam in die Augen, aber du willst seinen Namen nicht nennen. Russisches Sprichwort