Sexueller Missbrauch – Zahlen, Fakten, Informationen

Meine Zusammenarbeit als Ghostwriterin mit den Frauen, die in ihrer Kindheit Opfer sexueller Gewalt wurden, besteht vor allem darin, dass ich ihnen stundenlang zuhöre. Falls der Redefluss ins Stocken gerät, was häufig geschieht, sei es, weil die Erinnerungen versiegen, trügen oder zu schmerzhaft sind, dann helfe ich mit zielführenden Fragen und Vorschlägen oder einfach nur mit Trost, Verständnis und Solidarität im gemeinsamen Schweigen und Trauern.

Doch auch über die Interviews mit den betroffenen Frauen hinaus beschäftige ich mich natürlich sehr oft mit dem Thema. Mittlerweile habe ich mir zahlreiche Bücher dazu besorgt. Aber auch und vor allem das Internet bietet mir umfangreiche Informationsquellen. Wobei ich beim Lesen und Recherchieren das Ganze wesentlich breiter fasse. Mir geht es nicht nur um den sexuellen Missbrauch bzw. die sexuelle Gewalt an Kindern im engeren Sinne, sondern ganz allgemein um emotionale und körperliche Gewalt, was die sexuelle Gewalt ja häufig einschließt.

Was versteht man eigentlich unter sexuellem Missbrauch bzw. sexueller Gewalt?

Jede sexuelle Handlung, die an Mädchen und Jungen – also an Minderjährigen – vorgenommen wird, ist unter dieser Begrifflichkeit erfasst. Dabei ist davon auszugehen, dass das Kind aufgrund seiner körperlichen, seelischen, geistigen und/oder sprachlichen Unterlegenheit gegenüber dem Täter oder der Täterin überhaupt nicht in der Lage ist, einer sexuellen Handlung wissentlich zuzustimmen. Stattdessen nutzt der Täter oder die Täterin seine/ihre Macht verantwortungslos und egoistisch aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.

Die Handlungen, die als sexueller Missbrauch zu werten sind, weisen eine große Bandbreite aus. Von verbalen sexuellen Anspielungen über Berührungen der Genitalien bis hin zu unmittelbaren sexuellen Handlungen – alles ist sexueller Missbrauch und damit strafbar.

Ich stelle immer wieder fest, dass nicht wenige Menschen der Meinung sind, dass lediglich die schweren Formen sexueller Gewalt, also orale, vaginale und anale Penetration, als strafbare Handlungen anzusehen sind. Das ist nicht der Fall, im Gegenteil. Der Körper des Opfers muss noch nicht einmal berührt oder anderweitig direkt mit einbezogen werden. Also auch ein Exhibitionist oder eine Person, die vor den Augen des Kindes masturbiert, begeht sexuellen Missbrauch.

Ich habe mit zahlreichen Frauen (und einigen Männern) gesprochen, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Einige von ihnen waren noch als Erwachsene der Meinung, dass es zum Beispiel nicht strafbar sei, wenn ein Kind aufgefordert wird, an sich selbst sexuelle Handlungen vorzunehmen, während der Erwachsene das Ganze filmt oder fotografiert.

Nein, das ist kein Spiel! Egal, was der Täter dazu meint. Es ist nicht irgendeine unerhebliche Kleinigkeit, auch wenn man dem Kind verspricht, dass es nicht wehtun wird, dass es ja noch nicht mal angefasst wird, und dass es am Ende dafür sogar Geld oder Geschenke erhalten wird. Es ist Missbrauch!

Die Zahlen, sexuellen Missbrauch betreffend, sind alarmierend!

Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass rund 18 Millionen Minderjährige in Europa von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland sind das rund eine Million Kinder. In jeder Schulklasse sitzen mindestens zwei Kinder, die wenigstens einmal mit sexueller Gewalt in Berührung gekommen sind!

Die Polizeiliche Kriminalstatistik enthält für das Jahr 2015 rund 12.000 Fälle von sexuellem Missbrauch. Dabei sind 75 Prozent Mädchen und 25 Prozent Jungen betroffen. Und darin sind noch nicht mal die Zahlen enthalten, die jene Fälle erfassen, in denen es sich um Kinderpornografie und um Cybergrooming handelt.

Was ist Cybergrooming?

Mit Cybergrooming wird lt. Wikipedia „das gezielte Einwirken auf Personen im Internet mit dem Ziel der Anbahnung sexueller Kontakt“ bezeichnet. Da sich gezeigt hat, dass diese Form der Kontaktaufnahme in sozialen Medien wie Instagram, Snapchat und anderen überwiegend mit dem Ziel praktiziert wird, sexuellen Missbrauch mit Kindern – online oder offline – zu realisieren, stellt Cybergrooming zunehmend eine Gefahr für Kinder und Jugendliche dar.

Missbrauch findet meist im unmittelbaren Umfeld des Opfers statt.

Eine lange bestehende Meinung war, dass Missbrauch überwiegend von Fremden zu befürchten ist. Jahrzehntelang wurden Kinder vor dem „bösen Fremden“ gewarnt.

„Geh mit keinem Mann mit!“

„Nimm nichts Süßes von Fremden!“

Doch sexueller Missbrauch findet am häufigsten (ca. 25 Prozent) im engeren Familienkreis statt. Ca. 50 Prozent der Täter kommen aus dem näheren sozialen Umfeld der Minderjährigen. Hierzu zählen Nachbarn, Bekannte und Freunde der Familie und andere Bezugspersonen in Schulen, Einrichtungen und Vereinen.

Fremdtäter sind dagegen eher die Ausnahme.

Warum schweigen so viele missbrauchte Opfer jahrelang?

Es dürfte nicht verwundern, dass bei diesen Angaben die Dunkelziffer extrem hoch ist. Häufig sind die Opfer kleinere Kinder, die zu brauchbaren Aussagen noch gar nicht fähig sind. Aber auch größere Kinder wissen meist gar nicht so richtig, was ihnen passiert ist. Und sie haben eine natürliche Scheu davor, über Dinge zu reden, die sie nicht wirklich verstehen, die sie aber dennoch als unangenehm und peinlich empfinden. Hinzu kommt, dass es umso schwieriger ist, als Kind ehrliche Angaben zu machen, wenn womöglich der Vater, der Stiefvater oder der Bruder als Täter infrage kommen.

Ein nicht zu unterschätzender Grund für das oft jahrelange Schweigen der missbrauchten Kinder ist die Tatsache, dass sie sich meist sehr stark für den Fortbestand ihrer Familie verantwortlich fühlen. Dies trifft vorrangig auf Mädchen zu. Ein Täter trifft somit stets ins Schwarze, wenn er dem Kind zum Beispiel androht, dass die Geschwister in Kinderheimen untergebracht werden, dass die Mutter krank werden wird, dass der Täter weggehen muss, wenn das Opfer „das Geheimnis“ preisgeben würde.

Den Opfern wird selten geglaubt.

Auf der anderen Seite haben wir es mit dem Phänomen zu tun, dass den missbrauchten Kindern, die sich nach anhaltenden körperlichen und seelischen Qualen endlich öffnen, sich einem Erwachsenen anvertrauen möchten, nur allzu häufig kein Glauben geschenkt wird. Oft wird das Kind sogar als Lügner hingestellt. Und so erfährt das Opfer neben der Scham und den körperlichen Schmerzen auch noch Ablehnung, wodurch sich Gefühle wie Schuld, Einsamkeit und Minderwertigkeit noch verstärken.

Marion Horn, ehemalige Chefredakteurin von Bild am Sonntag und Vorstandsmitglied der Stiftung Ein Herz für Kinder, sagte dazu: „Ein betroffenes Kind muss im Schnitt acht Erwachsene ansprechen, bis ihm endlich jemand hilft.“

Diese Aussage entspricht auch dem, was ich in unzähligen Interviews mit Betroffenen erfahren habe. Meist erlebten die Kinder drei bis vier mal eine Situation, in der sie einen Erwachsenen mit dem Ungeheuerlichen, mit dem Unaussprechlichen konfrontierten oder dies zumindest im Ansatz versuchten. Manchmal geschah dies auch völlig unabsichtlich, zum Beispiel „verriet“ sich das Kind durch auffällige Handlungen während eines Spiels, in welchem es sich unbeobachtet fühlte.

Kinder erleben somit nicht nur mehrmals die innere Qual, ein dunkles, ein gefährliches „Geheimnis“ trotz des Verbots preiszugeben, sondern man mutet ihnen auch mehrmals zu, trotz ihrer erlittenen Qualen beschimpft, abgelehnt und allein gelassen zu werden.

Ich habe nicht nur einmal gehört, dass missbrauchte Kinder sich anschließend völlig zurückzogen und nie wieder den Versuch unternommen haben, sich einem Erwachsenen anzuvertrauen.

Wenn man dem Ausspruch von Marion Horn folgt, so gibt es offenbar nicht wenige Kinder, die hartnäckiger sind und bis zu acht mal den Versuch unternehmen, ihre hässlichen Erlebnisse jemandem zu offenbaren. Wie viel Energie, wie viel Mut, wie viel Unerschrockenheit und Hartnäckigkeit müssen diese gepeinigten Mädchen und Jungen aufbringen, um sich wenigstens einen Rest von Würde, von körperlicher und seelischer Unversehrtheit bewahren zu können!

80 bis 90 Prozent der Missbrauchstäter sind erwachsene Männer und männliche Jugendliche.

Experten gehen davon aus, dass rund 90 Prozent Täter sind und rund 10 Prozent Täterinnen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik stellte für 2015 fest, dass in Deutschland rund 5 Prozent des sexuellen Missbrauchs an Kindern von Frauen begangen wurde.

Dabei wird allerdings angenommen, dass es bei der Zahl der weiblichen Täter eine beachtliche Dunkelziffer geben dürfte. Sexueller Missbrauch wird Frauen häufig gar nicht zugetraut. Diesbezügliche Taten von Frauen werden somit auch seltener entdeckt und thematisiert.

Wer als Kind sexuelle Gewalt erleben musste, leidet meist lebenslang darunter.

Jeder sexuelle Missbrauch hinterlässt Spuren beim Opfer. Wie traumatisch diese Erlebnisse für die meisten missbrauchten Kinder sind, hängt von vielen Faktoren ab. Wann hat der Missbrauch begonnen? Wie oft und über welchen Zeitraum hat sich der Missbrauch ereignet? Je vertrauter der Täter dem Opfer ist, umso einschneidender werden die Folgen sein.

Für Frauen, die sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit erleben mussten, ist es in jedem Fall eine traumatische Erfahrung. Diese kann sich sehr unterschiedlich auf ihr Leben als Erwachsene auswirken. Besonders häufig sind Störungen der Sexualität. Vielen Missbrauchsopfern gelingt es nicht, eine gesunde Beziehung zu ihrem Körper aufzubauen und somit eine erfüllte Sexualität leben zu können.

Seit einigen Jahren ist anerkannt, dass sexueller Missbrauch posttraumatische Belastungsstörungen hervorrufen kann. Das bedeutet, dass neben psychischen Störungen auch körperliche Reaktionen und gesundheitliche Probleme auftreten. Vor allem sind chronisch auftretende Unterleibsbeschwerden bekannt. Aber auch Migräne, Schwindel, Hauterkrankungen, Beschwerden des Verdauungstraktes sowie Essstörungen und Suchterkrankungen sind sehr häufig.

In Deutschland arbeiten zurzeit 14 Frauengesundheitszentren (Stand 2019).

Eine Liste gibt es hier: www.frauengesundheitszentren.de/BV_pub/

Ich kann nur jeder betroffenen Frau (und/oder den Angehörigen) empfehlen, sich an eines dieser Zentren in ihrer Nähe zu wenden. Neben kostenloser Beratung z. B. zu geeigneten Therapien werden dort auch Vorträge und Informationsveranstaltungen zum Thema sexualisierte Gewalt angeboten.

Es ist nie zu spät, sich Hilfe zu holen!

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